Aufführung der DS-Stücke „Willkommen im Jahre 2018“ und „Nichts“

Anfang Mai wurden zwei Theaterstücke der beiden DS-Kurse der Q2 der Herderschule am Nachmittag und Abend desselben Tages mit großem Erfolg jeweils nacheinander zur Aufführung gebracht. Den Beginn machte das Stück „Willkommen im Jahre 2018“ des DS-Kurses von Ute Rosenhahn-Ohlmeier, das im Kurs selbst erarbeitet wurde. Darauf folgte das Stück „Nichts“, basierend auf dem gleichnamigen Roman Janne Tellers des DS-Kurses von Annke Siewierski. Beide Stücke zogen Mitschülerinnen und Mitschüler, Eltern, Lehrkräfte und viele andere Gäste in ihren Bann: das erste lustig und rührend, das zweite tragisch und philosophisch.

Willkommen im Jahre 2018

Ein selbst entwickeltes Stück des DS-Kurses Q2 von Ute Rosenhahn-Ohlmeier

Der 17-jährige Manfred (souverän in Liebeslyrik: Simon Lampe) wird im Jahr 2018 nach 60 Jahren des Eingefrorenseins aufgetaut – von einem professionellen Ärzteteam unter der Leitung der ehrgeizigen und karrierebewussten Professorin Shannon (sehr verliebt in sich selbst: Johanna Lingenfelser) – natürlich mit dem Föhn.

Seine erste Begegnung mit Gleichaltrigen an der Bushaltestelle gleicht der Begegnung eines Zombieheeres: Alle sind auf ihre Handys fixiert, so dass sie ihre Umgebung kaum noch wahrnehmen. Auch im (schul-)alltäglichen Miteinander dominieren Handy, soziale Netzwerke, WhatsApp die soziale Interaktion unter den Schüler/innen; Manfred versteht die Welt nicht mehr. Schülerinnen machen Fotos, die sie bei „Snapshat“ „promoten“ wollen (Jacqueline Hildmann, Stina Schmuck, Emma Reichenbächer), Nerds regen sich über den neusten Star Wars-Film auf (herrlich schrullig: Carolin Jünemann, Jana Stede, Kira Schmagold, Rahel Brandl), coole Sportler (Jan Bischoff, Jan Reinbold, Ivo Krauspenhaar, Paul Eichel, Chiara Wagner) klären Manfred über den Sprachwandel unter Jugendlichen auf.

Einzig Anna (einfach süß: Ksenia Lassukova) nimmt sich Manfreds an, etwas widerwillig unterstützt von ihrer besten Freundin Sam (autark verschnarcht: Helena Gries). Leider können auch sie nicht verhindern, dass Manfred sich spontan in die mega-angesagte Lotte (selbstbewusst mit Sex-Appeal: Fatbardha Salihu) verliebt.

Da ist Manfred nicht der einzige – auch Pascal (ultracool: Paul Eichel) interessiert sich für die Schönheit und fragt ausgerechnet Manfred um Rat bei der Formulierung der ersten WhatsApp. Manfred, der noch altmodisch um die aphrodisierende Wirkung der (Goethe-)Lyrik weiß, kennt jedoch einen besseren Rat, Mädchen zu gewinnen, der leider bei der Falschen Wirkung zeigt.

So liebt Anna Manfred, Manfred liebt Lotte, Lotte entledigt sich ihres Freundes Marius zünftig per WhatsApp (schwer gekränkt: Alexander Riesen), um sich Pascal zuzuwenden.

Manfred, in Liebesdingen etwas schwer von Begriff, muss erst noch einen deutlichen Hinweis erhalten, damit es zum verdienten Happyend kommen kann …

Als Drehbuchautorin bzw. Drehbuchsynthetikerin gilt mein großer Dank dem gesamten DS-Kurs, der das Drehbuch mit seinen Ideen mitentworfen, zum größten Teil selbst geschrieben und gestaltet hat.

Mein besonderer Dank geht natürlich auch an Johann Wolfgang von Goethe und seine Werke „Die Leiden des jungen Werthers“, „Faust I“ und „Willkommen und Abschied“, an Georg Büchners „Woyzeck“, Clint Eastwoods Film „Gran Torino“, Juli Zehs „Corpus Delicti“ und nicht zuletzt an den Ritter Rost!!

Nichts

nach Janne Teller

Eine Aufführung des DS-Kurses Q2 von Annke Siewierski

Pierre Anthon (Christian Biegler), ein Schüler der 7. Klasse, steht am ersten Schultag nach den Sommerferien mitten im Unterricht auf und verlässt den Klassenraum mit den Worten: „Nichts bedeutet irgendetwas. Deshalb lohnt es sich nicht, irgendetwas zu tun“.

Dass der Sinn im Leben die alles entscheidende Rechtfertigung unseres Daseins ist, wird erst deutlich, wenn er radikal in Frage gestellt wird. Ohne Sinn keine Existenzberechtigung: Was sollen wir hier auf Erden?

Die Jugendlichen, die Pierre Anthon – und sich selbst – nun beweisen wollen, dass es so etwas wie Bedeutung gibt, wissen zunächst nicht einmal, wonach sie eigentlich suchen sollen. Sie wissen nur, dass sie Bedeutung finden müssen, sonst sind sie verloren.

Die vollkommen gesichtslose Erwachsenenwelt ist nicht in der Lage, den Kindern Orientierung, Werte, verlässliche Beziehungen, Selbstvertrauen zu vermitteln. Der „Scherz“ der Lehrerin bei Schulbeginn („Kinder, freut euch über den heutigen Tag. Ohne Schule gäbe es auch keine Ferien“) fasst die tatsächliche Bedeutung von Schule für die Kinder treffend zusammen und wird später von Pierre Anthon, der sich auf seiner Leiter selbst aus der Gemeinschaft der Schüler/innen ausgeschlossen hat, gespiegelt: „Man geht in die Schule, um eine Arbeit zu bekommen, und man arbeitet, damit man freihaben kann. Warum nicht gleich von Anfang an freihaben?“

Der zunächst harmlos und gut gemeint klingende Satz: „Aus uns sollte etwas werden“, bringt die Tragik der jugendlichen Generation zum Ausdruck. Er impliziert, dass die Jugendlichen aktuell nichts sind. Nichts wert und ohne gegenwärtige Bedeutung. Ihre Daseinsberechtigung liegt in einer zukünftigen Nützlichkeit für die Gesellschaft. Allein durch diesen Satz werden sie ihrer Menschlichkeit, ihrer Identität beraubt. Sie sind: NICHTS.

Diese Problematik wird besonders gut durch eine bühnentechnische Maßnahme verdeutlicht und kontrastiert: Einzelne Schüler/innen treten aus dem Geschehen und reflektieren es vor einer Kamera, so dass ihr Gesicht in Großaufnahme die Bühne dominiert. Mit einer eindringlichen Wirkung und Botschaft an den Zuschauer: der individuelle Mensch in Großaufnahme. Jede/r Einzelne ist schon eine Persönlichkeit – aber sie wissen es nicht.

Was könnte es aber sein, das Bedeutung hat? Mit den ersten Opfern, die die Jugendlichen auf dem „Berg der Bedeutung“ sammeln, erweist es sich als das, was man liebt. So muss Agnes (Lara Sarikaya) ihre grünen Sandalen abgeben, Gerda (Jana Gerschütz) ihren Hamster „Klein Oskar“. Die geliebten Objekte, die in der Folge abgegeben werden müssen, haben nur Bedeutung für ihre Besitzer, und zwar eine große, denn sie symbolisieren ihre Identität: Adoptionsurkunde, Gebetsteppich, das Kreuz aus der Kirche vom „frommen“ Kai, die blauen Haare von Marie-Ursula (Johanna Künzel). Indem sie diese Dinge abgeben, realisieren sie, wie wertvoll sie waren: Das Kreuz war Kais Glaube, mit dem er zugleich seinen Verstand verliert (beängstigend wahnsinnig: Jonathan Hoppe), die blauen Haare waren Marie-Ursulas Identität – nun aber machen sich die anderen einen Spaß daraus, sich die abgeschnittenen Zöpfe zuzuwerfen. Erst jetzt ist Marie-Ursula wirklich ein Nichts.

Die Kränkung und die Wut darüber, dasjenige zu verlieren, was einen ausmacht (während man durch den Verlust erst begreift, dass es einen ausgemacht hat), steigert sich zum Wunsch, einander möglichst großen Schmerz zuzufügen.

Fragloser dramaturgischer Höhepunkt des Stückes ist die Vergewaltigung Sofies.

Drei Sofies gleichzeitig stellen die ungeheure Verletzung der traumatisierten Seele dar: Die Identität, das Einssein mit sich selbst, wird aufgesprengt und zerstört. Vergewaltigung als schizoides Erleben. Die Preisgabe ihrer selbst hat die eine schützende Haut um sie herum aufgelöst, selbst die Grenze zwischen Antun und Erleiden verschwimmt, wenn die eine Sofie (Caroline Bruinier) mit sadistisch-frivoler Freude tanzt und sie die beiden anderen Sofies (Tamara Ciechanowicz und Paula Weise) missbraucht. Deren Furcht und Verzweiflung ist im Raum spürbar zu greifen. Der Vergewaltiger Jan Johann (Malte Herbst) steht im Hintergrund: widerlich, bedrohlich, geil.

Diese großartig gespielte Szene könnte man sich immer wieder ansehen – und doch ist man froh, wenn sie vorbei ist!

Sofies Rache an ihrem Vergewaltiger ist schrecklich: Der Gitarrist muss seinen rechten Zeigefinger lassen.

„Höhepunkt“ heißt mitnichten, dass es nun bergab ginge. Der Berg der Bedeutung fliegt auf, er wird international berühmt, als Kunstwerk verkauft. Die Schüler/innen sind stolz und fühlen sich bestätigt, bis Pierre Anthon sie auf den Boden der Tatsachen zurückholt: „Hätte euer Misthaufen auch nur die geringste Bedeutung, hättet ihr ihn doch wohl nicht verkauft?“

Und wieder: die Erkenntnis der wahren Bedeutung genau in dem Moment, wo sie auch schon wieder verloren ist. Resignation. Verzweiflung. Das Gefühl, dass man sich für nichts zu einem Nichts gemacht hat. Der Verrat des Glaubens, Vergewaltigung, Verstümmelung – alles sinnlos geopfert. Diese Erkenntnis entlädt sich in einem gewaltigen kollektiven Gewaltausbruch, eine Massenschlägerei in Zeitlupe, die trotz ihrer Brutalität befreiend wirkt und einfach wunderschön anzusehen ist.

Da die Bedeutung nicht gefunden werden konnte, löst man das Problem anders: Man tötet den Nihilisten. Pierre Anthon wird mitsamt dem Berg der Bedeutung verbrannt.
Am Ende wendet sich nichts zum Guten. Zurück bleiben schwer traumatisierte Kinder, die zu Mördern geworden sind.
Traurig, faszinierend.

Text: Ute Rosenhahn-Ohlmeier