Buchempfehlung
von Ute Rosenhahn-Ohlmeier

In der 2010 veröffentlichten Autobiographie berichtet der Autor von seiner Kindheit und Jugend im Berliner Stadtteil Wedding der 1990er Jahre. Seine Eltern sind persische Juden, die den Iran wegen der dortigen antisemitischen Lage verlassen haben, und darauf hoffen, dass ihre drei Kinder in Deutschland ohne Diskriminierung aufwachsen können. Die Familie ist nicht religiös, das Judentum wird wenig thematisiert, so dass Sharuz sich bis zu seinem 10. Lebensjahr kaum darüber bewusst ist, dass er Jude ist. So freundet er sich in der Schule und auf der Straße vornehmlich mit muslimischen Jungen an, Türken, Araber, Palästinenser, die den Stadtteil dominieren, und die selbstverständlich davon ausgehen, dass er als Iraner Muslim sei.
Dies ist die Ausgangslage für eine Lebensgeschichte, von der man sich im beschaulichen Kassel niemals hätte träumen lassen, dass es so etwas heute und hier, in unserer Hauptstadt nämlich, geben könne. Richard C. Schneider betont im Vorwort:
„Dieser Bericht ist kein Roman, sondern der Versuch, ein Stück deutsche Realität abzubilden, das, was in einem Teil Deutschlands vor sich geht, den man heute neudeutsch als „Parallelgesellschaft“ bezeichnet und ihn damit auf Distanz hält, als nicht wirklich zu Deutschland zugehörig. Doch Wedding, Kreuzberg oder all die anderen „Ausländerghettos“ in der Bundesrepublik sind ein Teil Deutschlands. Und was sich dort abspielt, hat uns zu interessieren, denn die Jugendlichen, die dort aufwachsen, werden in irgendeiner Form Deutschland mitprägen.“ (S.9)
Die Geschichte, die Shalicar erzählt, ist an manchen Stellen schwer erträglich. Wenn ein langjähriger Freund sich von ihm abwendet, weil er plötzlich realisiert, dass er einen Juden vor sich hat – wenn ganz allein durch diese Tatsache ein wertgeschätzter Mensch zu einem Unmenschen, einem verachtenswerten Etwas wird, ja zu einem Feind, dessen Leben nichts wert ist – dann vermittelt dies wenigstens ein Stück weit einen Eindruck der Tragik und Ohnmacht, die der Betroffene fühlen muss. Diesem betroffenen Menschen wird seine Menschlichkeit abgesprochen, Anschläge auf seine Würde verübt – warum? Hat er etwas falsch gemacht? Hat er etwas verbrochen? Nein, er ist nur Jude.

Shalicars Buch sollte man nicht nur lesen, weil „es uns zu interessieren hat“, in welchen ungeahnten Ausmaßen der islamische Antisemitismus in Deutschland wütet, sondern auch, weil es eine spannende Geschichte ist, wie Shalicar sein Leben trotz aller Widrigkeiten meistert, faszinierend, ihn ein Stück weit auf diesem Weg zu begleiten und mit ihm zu hoffen und den Mut zu behalten.
Das Buch kann ein Anlass sein, für Jugendliche unterschiedlicher Religionen und Herkunft, miteinander ins Gespräch zu kommen, nachdem überhaupt erst einmal ein Problembewusstsein für den „neuen“ Antisemitismus geschaffen wurde, nachdem man – wie Shalicars Eltern – geglaubt hatte, dass nach der Katastrophe des Holocaust gerade in Deutschland eine Art Immunisierung gegen Antisemitismus stattgefunden hätte.
Das Buch ist aber auch ein Appell gegen die Verallgemeinerung von Menschen, die nicht auf den einzelnen Menschen schaut, sondern nur auf äußerliche Merkmale, die ihn einer bestimmten Feindesgruppe zuordnen. Diese allgemeinen Zuordnungen führen immer zu Stigmatisierung und Diskriminierung, sie sind immer falsch, da sie Dialog und Frieden verhindern. So gelten Juden im Iran generell als „unrein“, ja geradezu kontaminiert, so dass keinerlei, auch mittelbare Berührung mit Muslimen stattfinden darf, sonst kann der Jude auch schon einmal ungestraft erschossen werden (vgl. Episode auf einem iranischen Markt). Aber genauso werden selbst unter Juden in Israel Unterschiede zwischen den aschkenasischen und den sephardischen Juden (Minderheit, u.a. im Iran ansässig) gemacht. Die Hoffnungen von Shalicars Großvater, die Diskriminierungen im Iran durch die Einwanderung nach Israel endlich hinter sich zu lassen, wurden dermaßen enttäuscht, dass die Familie wieder zurück in den Iran ging.
Diesen Fehler der Verallgemeinerung, der pauschalen Verurteilung einer ganzen Gruppe von Menschen, möchte Shalicar nicht machen. Trotz schlimmer Erfahrungen mit dem muslimischen Antisemitismus betont er: „Mir wurde klar, dass ich niemals sagen würde, alle Araber seien gegen Juden und man müsse sie deshalb hassen und bekämpfen.“ (S.97) Wie kommt er zu dieser aufgeklärten, geradezu Lessingschen Einstellung? Es ist die Erfahrung mit nur einem Gegenbeispiel, das der faktische Beweis dafür ist, dass nicht alle Muslime Antisemiten sind, nämlich sein Freund und Muslim Husseyn, der sich für ihn einsetzt und ihn beschützt: „Was spielt es für eine Rolle, dass Aron Jude ist? Er ist mein Freund und ich liebe ihn wie meinen Bruder.“ (S.96)
Was Lessings Nathan im Gespräch mit dem christlichen Tempelherrn über „Christ und Jude“ sagt, gilt natürlich auch für den „Muselmann“: „Sind Christ und Jude eher Christ und Jude als Mensch? Ah! wenn ich einen mehr in Euch gefunden hätte, dem es g’nügt ein Mensch zu heißen!“ (V.1310-1313)
So bleibt auch von Shalicars Buch nicht nur die Anklage und die Enthüllung der Missstände zurück, sondern vor allem die Erkenntnis, dass die einzige Chance auf Dialog und Versöhnung im Blick auf den individuellen Menschen liegt und dass Verallgemeinerung und Gruppenzuschreibung Entmenschlichung bedeutet.

Dieses Buch ist erschienen bei dtv 2020 (2010) 10,90 €, ISBN 978 3 423 34980 2 .

Das Buch wurde im Buchhandel käuflich erworben, die Herderschule und Frau Rosenhahn-Ohlmeier stehen in keinerlei geschäftlicher Verbindung zum Verlag oder zum Autor und erhalten keinerlei Vergütung für die Vorstellung.